Freitag, 27. August 2021

Gewaltvorfall im Jobcenter Berlin Lichtenberg - meine Kritik an einem Zeitungsartikel

Im Jobcenter Berlin Lichtenberg wollte jemand einen Mitarbeiter angreifen und drohte "alle umzubringen".

So schreibt es wortgewaltig die B.Z. im August 2021.

Die B.Z. beschreibt die Aggression des Mannes (27 Jahre jung) und seine vermeintlichen Taten, die er im Suff und zudem "religiös motiviert" begangen haben soll - als "Islamist".

Meine Fragen und meine Kritik:

Was mich sehr an der Berichterstattung der B.Z. stört: mit keinem einzigen Wort wird erwähnt, warum der Mann im Jobcenter unterwegs war! Also was zuvor jobcenterseitig gegenüber dem Mann vorgefallen war. Man mag jetzt vielleicht argumentieren: Täter ist Täter, nichts rechtfertigt solches Verhalten - doch ist dieser Mensch, der noch dazu betrunken und paradoxerweise gleichzeitig einer Religion anhängig, die Alkohol und andere Drogen strengstens verbietet, nicht an irgendeinen Ort gegangen, um die nächste Projektionsfläche für Fremdenfeindlichkeit und Hartz-IV-Betroffenen-Entsolidarisierung zu werden, sondern eben an einen Ort, an dem Hartz IV Betroffene immer wieder schwerste Demütigungen erleben, wenn ihnen dort existenzielle Leistungen versagt oder zusammengestrichen werden.

Die B.Z. beschreibt eindrücklich die Taten, die der Mann ausgeführt haben soll und keine einzige davon animiert mich zum nachahmen. Doch welcher ZORN lebt in einem Menschen, dass er das tut? 

Ist das Jobcenter als INSTITUTION wirklich so "unscheinbar und nicht erwähnenswert", dass es in diesem Zeitungsartikel nur zu einer Kulisse neuer Verrohung und Extremismus verkümmert?

Wenn ein Mensch mal wieder seiner Umgebung beweisen will, wie toll er sich seiner persönlichen wahnhaften Auslegung einer Religion zugehörig fühlt, geht er womöglich eher in den Supermarkt, die Bahn oder auf einen Marktplatz. Ich denke nicht, dass er zufällig im Jobcenter war, um dort irgendwelche fremden Leute zu bedrohen, sondern dass seine bereits vorbelastete und in einem Gewaltstrudel befindliche Seele sich einen Ort der Demütigung ausgesucht hat, von dem auch Bedrohung für seine persönliche Existenz ausging. Das ist natürlich reine Spekulation meinerseits- vielleicht lief er auch nur deswegen ins Jobcenter, weil da nach langem Lockdown die Türe offenstand - ich war aber auch schonmal im JC Lichtenberg (vor Corona!) und musste schon damals meinen Zutritt (als Beistand) beim Pförtner begründen, der hinter einer Glasscheibe sicher vor mir geschützt saß.

Ob jetzt das Misstrauens- und Sicherheitsaufkommen im JC (Lichtenberg und allgemein) gegenüber Antragsteller*innen noch weiter hochgefahren wird dank des Vorfalls?

Ich empfinde es jedenfalls von der Presse als grob fahrlässig, derart einseitig zu schreiben und Ursachen komplett auszublenden.

 Interessant ist, dass die Presse zwei Hauptfeindbilder der friedlichen Solidargemeinschaft bemüht ("fauler Säufer" und "islamistischer Terrorist") und das durch ein neues drittes (durch Taten bewiesenermaßen ein "Coronagefährder") unterlegt ("er versuchte einem Polizisten die Maske abzureißen") und diese Taten so völlig im luftleeren Raum stehenlässt, dass der geneigte Leser annehmen muss, der Glaube sei das Hauptmotiv (wenn auch Trunkenheit vielleicht andere Filme ablaufen lässt als sonst im Alltag - denn wäre er wirklich so glaubensfanatisch, hätte er doch schon mit seinem Alkoholverkäufer ein Hühnchen zu rupfen gehabt um den "auf Allahs Weg der Rechtleitung zu bringen"...)

Schuld an einer Esakaltion im Jobcenter ist aus meiner Sicht weder der Koran noch das Angebot von alkoholischen Getränken im Supermarkt, sondern dass Menschen Niederlagen, die häufig Existenzverlust bedeuten (wie das eben oft in Jobcenterkontexten passiert), nicht kommentarlos wegstecken und in ihren persönlichen Wut-, Rache- oder Gegenwehrfeldzügen alles bemühen, was ihnen irgendwie als "Waffe" oder (für Außenstehende nicht nachvollziehbares) "höheres Argument" einfällt und dabei ggf. rücksichtslos alles angreifen, was sich ihnen irgendwie in den Weg stellt oder nur über den Weg läuft. 

Es geht mir nicht darum "Täterversteher" auf den Plan zu rufen, die vielleicht Beifall klatschen, sondern darum, (potentielle) Opfer in JC und Polizei präventiv anders zu schützen - nämlich durch den konsequenten Einsatz der Grund- und Menschenrechte für alle - ja auch unliebsame und ungemütliche - Personen - und zwar von anfang an und vorab, nicht erst zur Belohnung, wenn jemand brav, gewaltlos und friedfertig sein Leben hinter sich gebracht hat und man ihn dafür abschließend moralisch bewerten möchte. Schutz der Menschenwürde ist auch immer ein Schutz vor irrem Austicken - keine Garantie, aber in vielen Fällen würde die Gewalt ausbleiben, wenn Menschen erstmal zu ihrem Recht kommen.

Ohne Verweigerung(smöglichkeit)en von Menschenrechten durch ein Hartz IV System bliebe den Menschen viel Ärger erspart - es wäre "ein Brandherd weniger", worauf sich Hass und Gewalt entladen würden.

Ich erinnere hier auch an den Fall von Christy Schwundeck, die vor zehn Jahren im JC erschossen wurde, nachdem ihr Sachbearbeiter ihr keine 10 EUR (in Worten: ZEHN) zur Überbrückung ihrer Notlage auszahlen wollte und sich von ihr subjektiv bedroht fühlte.


3 Kommentare:

  1. Der Schrecken von Jobcenter Treptow-Köpenick27. August 2021 um 12:16

    Ohne die Bedrohung(en) des Mannes gegen die Jobcenter-Mitarbeiter/innen gutheißen oder relativieren zu wollen, ist solcher Kontrollverlust bei Menschen, welche durch Entscheidung(en) von Jobcenter-Mitarbeiter/innen bzw. Verweigerung(en) von existenziellen Leistungen entstehen, durchaus nachvollziehbar. Hier bedarf es dringend einer gesetzlichen Regelung, dass auch Jobcenter-Mitarbeiter/innen zu einer menschenwürdigeren Behandlung der sogenannten "Kunden" angehalten werden, also einer - analog den Leistungsbezieher/innen angedrohten - Sanktionierungsmöglichkeit dieser bei entsprechendem Fehlverhalten bzw. Gesetzesverstößen ihrerseits. Diese müssen endlich haftbar gemacht werden für leichtfertig verhängtes Unrecht oder auch Machtmissbrauch. "FORDERN UND FÖRDERN" in beide Richtungen!

    AntwortenLöschen
  2. Ein fundierter und differenzierter Artikel / Kommentar!
    MfG
    Burkhard Tomm-Bub, M. A.
    -EX - Fallmanager im jobcenter -

    AntwortenLöschen
  3. Die B.Z. gehört zum Medienkonzern Springer (Axel-Springer-Verlag - BILD, WELT, B.Z., etc.) und schreibt nicht nur im Stil der Bildzeitung, sondern bringt oftmals haargenau die gleichen reißerischen Schlagzeilen, die auch schon in dem Schundblatt "BILD" stehen.

    Da ist also bei einem "Kunden" im Jobcenter die Sicherung durchgebrannt und der "Kunde" hat sich lautstark Luft gemacht. Nun ja, das ist zwar bedauerlich, dass ein Mann der Springerpresse "Material" geliefert hat, damit die Springerpresse ihren naiven Lesern wieder erzählen kann, dass Hartz IV Empfänger alles gewaltbereite Krawallbrüder sind, aber weshalb der Mann sich in einem Jobcenter so verhalten hat, das wird natürlich in der Springerpresse nicht thematisiert. Kann es sein, dass es Menschen gibt, die irgendwann durch wiederhole Schikane und Demütigungen sich nicht mehr beherrschen können und dann "ausflippen"? Natürlich sollte man sich immer im Griff haben und gegen so eine "Behörde" mit allen juristischen Mitteln angehen - die uns unser Rechtsstaat zur Verfügung stellt - aber bei mittlerweile 5,6 Millionen Hartz IV Bezieher (wir reden hier von 5,6 Millionen Bürgern, also so viele Menschen wie alle Einwohner von Berlin und Hamburg), die sich von einer fragwürdigen "Behörde" seit Jahren drangsalieren lassen müssen, sind nun einmal auch Menschen darunter, die sich nach jahrelanger Schikane leider nicht mehr im Griff haben. Aber dafür interessiert die Springerpresse sich nicht, denn die will nur einen Aufreißer, um ihren Lesern weiterhin das Märchen zu erzählen, dass "arbeitsscheue Hartz IV Bezieher" in Jobcentern ständig randalieren und dann auch noch die "netten Jobcentermitarbeiter" bedrohen. Und wenn es dann noch ein "JC-Kunde" mit ausländischen Wurzeln ist, dann freut sich die Springerpresse natürlich noch mehr.

    Was die Springerpresse in Wahrheit ist (das Wort "Wahrheit" in Zusammenhang mit der Springerpresse zu nennen ist schon sehr gewagt *lol*), macht 'Kalkofes Mattscheibe' deutlich. Es ist aber auch egal, ob man sich über die primitiven Schundblätter B.Z. oder BILD aufregt, denn die WELT ist nicht viel besser. Der Chefredakteur der WELT verpackt seine "Wahrheiten" nur etwas geschickter als die B.Z. oder die BILD. Der Chefredakteur der WELT, Ulf Poschardt und der Chefredakteur der BILD, Julian Reichel, sind allerdings auch nur "Instrumente der Reichen und Mächtigen", damit sich in unserem Land nichts ändert - weder im Sozialen, noch im Klimaschutz, denn das klimaschädliche Wirtschaftswachstum soll mit den wirtschaftshörigen Politikmarionetten aus Union und FDP immer so weitergehen, und dafür braucht man natürlich auch weiterhin billige Arbeitssklaven. Und wer liefert die Arbeitssklaven? Richtig, die Jobcenter.

    *Kalkofes Mattscheibe - BILD* https://www.youtube.com/watch?v=3Hy-xRi32jI

    M.S.

    AntwortenLöschen